Der Plauensche Grund

Ein rechter Frühlingstag. Weiche, warme Luft fließt durch den Raum. Sonne überall. Die goldenen Strahlen gleiten nieder am blanken Zierrat der Häuser und spinnen weiter in den Träumen hoffender Bäume. Weiße Wäsche wedelt im Winde. Im Vorübergehen spiegelt sich Frau Sonne schnell einmal in jeder der kleinen Wasserlachen, die vom letzten Regen zwischen den Wagenspuren blinken. In den Gärten vollführen die Spatzen einen fröhlichen Lärm. Auch der Magd im Hoftore regt sich in Frühlingssehnen in der jungen Brust - die Luft ist so frühlingsweich und das Herz so jung.

Über die Friedhofsmauer in Plauen fallen die Sonnenstrahlen verloren auf den Hohlweg. Grabkreuze schauen versonnen ins Land. Im Blattgewirr des Efeus rascheln leise, linde Frühlingslüfte. Friedhof, Heimstätte der Toten, und doch spinnt die Sonne ein ganzes Netz jubelnder Lebensmelodien darüber hin. Es gibt keinen wirklichen Tod, frohlocken die ersten Frühlingsblumen. Und im Bewußtsein des ewigen Lebens der Natur schmettert die Meise ihr lenzfrohes "Pink pink". Eine ernste Zypresse aber schüttelt ihr feines Blattgefieder. Im Rauschen klingt leise ein Mahnen an den Ernst des Lebens.

Der Weg verläßt die Enge und tritt hinaus auf lichtfunkelnde Höhen. Die Rasenflächen steigen zaghaft lehnan und schauen erschrocken hinab in den gähnenden Abgrund. Tief unten prickelt der schäumende Wellenkamm der Weißeritz im Falle. Schmeichelndes Sonnenlicht gleitet an den roten Syenitwänden der Steinbrüche hinan, zittert weiter über duftschwere Äcker hinaus ins weite, weite Land. In schroffem Sturze tauchen die Felsen hinab ins Wellenbad. Wie der Bogenflug der Bachstelze schwingt sich Fels um Fels hinaus ins Tal. Mit schwerem Stampfen zwängt sich ein Güterzug in der Tiefe durch den Engpaß. Weißgeballt quillt der Rauch empor, oben zerfließend in Licht und Himmelsbläue.

Drüben in den Ratssteinbrüchen hat der Schlegel des Steinbrechers ein redendes Blatt aus der Geschichte der Erde aufgeschlagen. Vor langer, langer Zeit hat hier Pluto den Syenit in schwerer Massigkeit hoch aufgetürmt. Mit gigantischer Hand plattete er den Pläner, kümmerliche Schlammreste brausender Meere, flach obenauf. Und dann überzog die Eiszeit diese Zeugen heißblütiger Kampfstunden mit einem schwachen Geschiebe von Lehm und Geröll. Selten ist der Erde so deutlich eine schwere Stunde ihres Werdens abzulesen wie gerade hier.

Auf einer Ecke der zackigen Felsstirn ragt der wenig schöne Turm des hohen Steins. Du kletterst hinauf und stehst auf einem Grabe tausender Lebewesen. Als noch kein Mensch auf Erden atmete, wurde Europa geboren, das weite Meer verrauschte. Tausende kleiner Muscheln und Seetiere bezahlten die Taufkosten mit dem Leben. Auf ihrem Massengrabe auf sturmumjagter Höhe baut sich der Aussichtsturm auf. Muschelkalk, sagt der Geologe.

Auf waldigem Felsthrone träumt das Dorf Coschütz im Sonnenzauber, vom Windberg überwölbt. Die Begerburg horstet hoch über dem Abgrunde, und weiter hinaus blickt das Jochhöhschlößchen ins Land. Im Tale aber braust der Lärm der Industrie. Er hat dem einst wildromantischen Weißeritztal viel Reize geraubt.

Zwischen Obstbäumen und Hecken klettert der Weg hinab, durchschneidet ein Tälchen und klimmt dann wieder auf felsige Höhen. Über den Stämmen vernestelt sich das Baumgezweig. Verworrens spinnt die Waldrebe braune Schlingen von Strauch zu Strauch. Der Volksmund gab ihr den Namen Teufelszwirn. Durchs dürre Laub rascheln schwarzäugige Amseln. Im Geäst zirpt die niedliche Tannenmeise ihr frühlingsfrohes "Sififififi".

Nun schneidet ein Tälchen scharf in die Höhe ein, das Coschützer Gründel. Oben auf der Ecke liegt das Dorf, weich eingebuddelt im Sonnenglanz. Obstbäume reihen sich herab zum Bächlein. Die Sonne lehnt weich und warm am Grashange. Im feuchten Boden scharrt ein Hühnervolk. Herr Hennig, ganz Herr und Meister seines Weibergefolges, meldet mit lautem Krähen jeden wichtigen Fund. Der glänzend bunte Hals reckt sich, das Gefieder stiebt bunte funken.

Die alte Villa Cosel, einst ein Lieblingsschlößchen August des Starken, träumt im Tale von glänzenden Festen, da Venus und Bacchus hier ihr labbekränztes Szepter schwangen. Und wieder Wald, Sonnenschein und Meisenruf. Gradüber liegt die Begerburg. Sie schaut so trotzig vom Felsen herab, als hätte sie wunder was für Ritterglanz gesehen. Aber gebaut wurde sie doch im vorigen Jahrhundert als - Restaurant. Bald darauf lagern sich ein paar massige Sandsteinblöcke hart am Wege, die stark mit Muschelresten durchsetzt sind. Also wieder ein Massengrab der Natur. Mitten in eisenharte Syenitfelsen hineingebaut, kündet dem Forscher der Coschützer Muschelfelsen aus grauer Vorzeit. Viele große Männer, darunter Alexander v. Humboldt, haben dieser Sandsteinbank einen Besuch abgestattet.

Nun führt der Weg hinauf zur Heidenschanze, in grauer Vorzeit ein altgermanischer, später ein sorbischer Begräbnisplatz. Das Dresdner Museum besitzt eine sehr reichhaltige Sammlung hier gefundener Urnen und Waffen. Der Ringwall der alten Schanze ist jetzt zu einem reizvollen Aussichtspunkt hergerichtet worden. Gern möchte man hier oben ein Stündchen träumen angesichts des lieblichen Landschaftsbildes. Wohl drängen sich keine wilden Felskonturen auf, aber das sanfte Steigen und Senken bebauter Höhen hat einen eigenen, feinen Reiz. Man wird an einen Richterschen Holzschnitt erinnert. Feld um Feld gliedert sich höhenauf. In weichen Linien wölben sich die Hügel zum Tale. Darüber hinaus blaut der Windberg im Föhrenmantel in klarer Luft.

Wenn hier der Abendwind herüberstreicht, zittert im Raume ein leises Singen und Klingen. Dann spielt der Geiger von Deuben seine Fiedel. Die Sage erzählt ein keckes Stücklein von ihm. Heimkehrend von der Tanzmusik zog er mit klingender Fiedel weinselig ein in den Windberg zu den Geistern der Unterwelt. Für sein Spiel erntete er einen Hut voll glühender Kohlen, die er mühselig heimschleppte, um sie an seinem Hause endlich wegzuschütten. Aber, o weh! Am andern Morgen flimmerte es gar goldig im Hute. Die letzte Kohle, die im Futter hing, hatte sich in pures Gold verwandelt. Die weggeworfenen Kohlen aber lagen schwarz und tot vor der Tür. So war´s also mit dem Reichwerden des armen Geigers wieder nichts.

In launigem Schneckengang krabbelt ein Pfad den Sauberg hinab in den Grund. An steilragenden Felswänden vorüber führt der Fahrweg über die Weißeritz auf die alte Verkehrsstraße. Ein Blick auf das Tal gibt interessanten Bescheid, wie es zustande kam. Wo auf dem einen Ufer eine Bucht einklüftet, paßt gegenüber ein Felsvorsprung hinein. So hat die Weißeritz das Tal im Laufe von Jahrtausenden, Hindernisse findend, Hindernisse überwindend, in das Felsmassiv gesägt, eine Umarbeitung, an der der ungeberdige Fluß noch bis zur Regulierung gearbeitet hat.

Nach kurzer Wanderung auf der Straße liegt am waldigen Hügel der Steiger. Hier hat sich einst eine historische Episode abgespielt. in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bildete der Steiger den Ausflugsort der Künstler von der Dresdner Oper. So kam die Zeit, wo auch in Dresden der Volksaufstand von 1849 Sturm läutete. Die Freiheitskämpfer wurden aber rasch von den Schergen der Reaktion niedergeschlagen und flüchteten nun scharenweise grenzwärts. Eines Morgens, am 9. Mai 1849, kam nun auch so ein Flüchtling in den Steiger, pulvergeschwärzt, die Kleidung auf der Barrikade zerrissen. Er verlangte schnell zu essen. Dann führte ihn ein Sohn der Wirtin auf Schleichwegen nach Tharandt, von wo aus er glücklich nach der Schweiz entkam.

Vierzehn Jahre verflossen. Das Ol der Reaktion hatte die hochgehenden Wogen wieder geglättet. Da kam in den Steiger ein Unbekannter, um eine alte Schuld zu bezahlen. Er entpuppte sich als der flüchtige Barrikadenkämpfer, der auf der Flucht damals hier kurze Rast hielt, ohne zu bezahlen. Der unbekannte Flüchtling aber war Richard Wagner.

Hart am Fuße des Burgwartberges schmiegt sich Niederpesterwitz im Tale, um schließlich keck mit der Straße bergauf zu klettern. Der Burgwartberg war in längst vergangenen Tagen eine sorbische Gottesstätte. Hier lohten einst um mitternächtige Stunde die Opferfeuer zu Ehren des Todesgottes Piestritz himmelan. Noch heute erinnert der Ortsname Pesterwitz an seine düstre Herrlichkeit. Später schaute von der Kuppe des Berges ein burgartiges Bollwerk ins Land hinaus. Heinrich I. hatte den alten, mächtigen Gau Nisan, unser heutiges Sachsen, unterworfen und damit den bitteren Groll der Sorben - Wenden heraufbeschworen. Diese zu beugen, teilte er sein Land in Burgwarte ein und baute Zwingburgen. Eine solche trug der heutige Burgwartberg. Spätere Zeiten zernagten die Mauern, die Burg verfiel. Nur Spuren des alten, tiefen, jetzt verschütteten Brunnens, nahe der großen Eiche, erinnern noch daran.

Den Südabhang des Berges hinab spinnt sich verworrenes Dornengestrüpp. Man nennt diese Halde den Dürrnickel. So fremd und düster es erst scheint, so fröhliches Leben herrscht darin. Ungestört nisten hier viele unserer gefiederten Sänger. Es ist ein ewiges Huschen und Zwitschern im Schlehdorn und Rosengestrüpp. Sogar Meister Lampe ist in diesem kleinen Urwald weniger scheu.

„Glückglückglückglück.“ Ein gellendes Gelächter schallt irgendwo, da drüben, jetzt hier. Was ist das? Vielleicht hausen hier im Dornröschenwald die Kobolde? Oder kichern die Waldgeister? Da, ganz nahe wieder das durchdringende Lachen. Aha, ein Specht ist es. Da klammert er am morschen Stamme. Spiralenförmig klimmt er empor. Husch ist er weg. Und wieder schallt drüben laut sein Ruf. Er ist ein scheuer Waldfiedelmann, der mit Menschen nicht gern hantiert.

Der Berg selbst ist aus dem festen Augitporphyr gefügt, der als zweite Zone ungefähr bei Potschappel einsetzt. Dieser Teil des Plauenschen Grundes ist später aufgetürmt worden als die Syenitfelsen am Eingange. Das rote Gestein leuchtet allerorten durch den Waldboden.

Um den Berg lagert sich in lieblichem Bilde die Landschaft. Die Umrisse des Windberges schwimmen schwer im Blau. Höhe um Höhe schließen sich zu buntem Kranze. Freundliche Ortschaften liegen eingestreut im schwellenden Wiesental. Weiß und heiter schaut die schlanke Kirche von Oberpesterwitz herüber. Die weiten Felder ziehen langsam heran. Auf waldigem Hügel träumt das Jochhöhschlößchen im Abendgold. Drüben sinkt hinter einem kleinen Kiefernholz eben die Sonne. Jetzt zuckt sie noch einmal auf. Der Wald scheint zu brennen, die schwarzen Kiefern lodern in der Glut. Am Himmel herauf gleitet ein wundersames Leuchten. Rosiges Licht flutet durch den Raum. Wolke um Wolke errötet unter dem letzten Kusse der Sonnenkönigin. Licht im Licht läuten die Frühlingsklänge der ersten Amsel durch den Abend. So weich und friedlich fließen sie dahin, als sei es nun ewiger Frühling.

Im Dorfe erstirbt langsam der Tageslärm. Aus einer scheune klingt das „busch busch“ einer Häckselmaschine. Die Berge versinken in schwimmender Dämmerung. Ganz still ist es. Weit im Lande träumt eine Abendglocke. Irgendwo knarrt ein Wagen. So weich ist die Luft. Alles atmet friedliche Sehnsucht.

Leise, ganz leise kommt der Abend.

 

 

Aus "Der grüne Film" - ein Wanderbuch von Edgar Hahnewald.