Der Zschoner Grund

Vorfrühling! Atemlos kommt der Sturm übers weite Land geflogen. Er bringt die heißersehnte Kunde, daß der Frühling im Anzuge stehe. Die Herolde kommen schon. Oho, und wie das noch aussieht. Da gibt´s Arbeit, massenhaft. Der Sturm kehrt flugs jedes Winkelchen rein. Da liegt ein alter Papierfetzen, hier wirft er einen Wirbel dürre Blätter auf einen Fleck, den er schon gefegt hatte. Und die liebe Sonne putzt und poliert, daß es eine Art hat. Der Wald steckt sich mancherlei Blühendes vor die Brust - patsch, kommt flink noch einmal der Winter um die Ecke und wirft ihm eine Handvoll Schnee ins Gesicht. Da hat er´s! Aber die Sonne scheint den Schnee windelweich und die Arbeit beginne von neuem.

In den Gärten der Vorstadt kommen in den Beeten hie und da die ersten Frühlingsboten zum Vorschein. Der Rhababer schiebt seine tiefroten Sprosse durch einen kleinen Erdriß. Im dürren Gras stehen still und bescheiden die keuschen Schneeglöckchen. Ein warmer Sonnenstrahl hat sie wachgeküßt und nun läuten die schlichten, weißen Glöckchen kommende Luft ein.

Die Kirche zu Briesnitz schaut hoch hinein in all das Sturmgebraus. Auf einem Hügel, der einst den Wenden als Göttersitz diente, baut sie sich auf. Die Kirche ist sehr alt, älter als der Meißner Dom. Noch älter aber ist das Material, aus dem sie erbaut wurde, der Pläner. Er entstand aus den ehemaligen Schlammschichten des Meeres, dessen Wogen weit und breit unser Land bedeckten. Der Lauf der Zeit erhärtete sie zu Stein. Heute branden an ihnen die Klänge der Orgel, und ehemals sangen über ihnen die Meeresfluten ihre gewaltigen Choräle. Der Name des Ortes Briesnitz entstand aus dem wendischen berésina und bedeutet Birkenrode, abgehauenes Birkenholz. Nicht weit von der Kirche fällt der Hügel steil zu Tale, den in früherer Zeit die Burg Briesnitz krönte. Heinrich I. erbaute sie gegen die Sorben-Wenden als Stützpunkt eines Burgwartsbezirkes. Im Jahre 1233 wurde sie in einer Fehde zerstört. An der Kirche selbst befinden sich neben dem Südportale zwei eingemauerte Ringe, Überbleibsel des Prangers. Hatte irgendeiner ein kleineres Vergehen auf dem Gewissen, so wurde er hier angeschlossen. Auf einer Tafel, die ihm um den Hals hing, stand seine Sünde geschrieben, und so wurde der arme Sünder dem öffentlichen Spotte preisgegeben. So erzählen die Steine mannigfache Erinnerungen an Vergangenes, über das schon Jahrhunderte hinweggeraucht sind.

Unmittelbar hinter dem Friedhof zweigt der Weg nach dem Zschoner Grund ab, der tief in das Höhenland einschneidet.

Noch stehen die Laubbäume kahl, die Wiesen liegen gelb und fahl. Aber überall webt leise ein geheimes Regen neuen Lebens. An allen Zweigen schwellen die Knospen. Die Haselnußsträucher haben sich über und über mit goldgelben Blütenkätzchen behangen. Beim leisesten Windhauch stiebt eine gelbe Wolke Blütenstaub auf. In dieser Wolke vollzieht sich ein stilles Wunder der Natur. Jedes der unendlich kleinen Stäubchen ist fähig, einen neuen Haselstrauch ins Dasein zu rufen. Auf diese Sendboten der männlichen Blütenkätzchen harren soundso viele weibliche Blüten, kleine, dicke Dämchen mit einem Federhut. Millionen der Blütenstäubchen verwehen, ein einziges genügt, von einem solchen Dämchen empfangen, eine neue Haselnuß zu erzeugen. Dabei bedient sich der Haselstrauch der einfachsten Mittel. Während andere Pflanzen sich gegenseitig im Wettbewerb, in Gestalt der Blumen möglichst auffallende Reklameschilder herauszustecken, überbieten, begnügt sich der Haselstrauch mit ein paar Kätzchen. Der erste beste Windhauch, an dem es ja im Vorfrühling nicht fehlt, genügt, den goldenen Segen den Haselnußmüttern in den Schoß zu führen. Er ist ein Windblütler. So braucht er sich nicht in blumenreiche Unkosten zu stürzen und der Frühlingswind besorgt willig das wichtige Geschäft der Fortpflanzung. Genau so machen es die Nadelbäume, die Erle, die Birke und noch viele andere. Diese Windblütler sind aber nicht eta große Vereinfachungskünstler, sie benehmen sich im Gegenteil als unverbesserlich rückständig. Auf diese Art wälzten schon die Riesengewächse des Steinkohlenwaldes das Zeugungsgeschäft von sich ab. Andre Blumen aber stecken eine knallbunte Laterne heraus, damit die Insekten sofort wissen, da ist das „Restaurant zum Honigtopf“. Für die Zeche wird ihnen dann die Arbeit aufgehalst, eine zweite Blüte derselben Art zu begatten. Freund Haselstrauch aber verzichtet auf die Reklame, läßt es den Wind machen und denkt, das war früher überhaupt nur so.

Der Weg läuft immerfort am Zschonerbach entlang. Sanfte Hügel wölben sich herab zu weiten Wiesenflächen. Bei jeder Wegbiegung öffnet sich ein neuer reizvoller Blick auf das schöne Waldtal. Der Bach hat´s besonders eilig. Gestärkt von den Wassern des geschmolzenen Schnees stürmt er übers Gestein, als könne er nicht schnell genug zur Elbe kommen. Auf den Wiesen türmen sich allerorten kleine Sandberge auf. Freund Maulwurf ist wieder an der Arbeit. Die Schnittflächen der gefällten Erlen schwimmen im Blute aufsteigenden Lebens. Der quellende Saft färbt die Wunde, die die Axt mitten im Frühlingshoffen schlug, tief orangerot. So kommt der Tod mitten hinein in den Jubel des allerersten Lenzes.

Hinter der Zschoner Mühle, dem beliebten Ziele so vieler „Boomblutpartien“, wird der Grund bewegter. Die sanften Hänge werden hie und da von schroffen Syenitfelsen unterbrochen. Der hintere Teil des Zschoner Grundes ist fast noch schöner als der vordere. Überall schaukelt der Goldflitter der Haselnußsträucher im Sonnenschein. Die Weiden haben sich mit weichen silbernen Filzkätzchen wunderhübsch herausgeputzt. Am feuchten Gestein entfalten zierliche Laubmoose ihre Blattfächer. Endlich tritt der Weg aus dem Grunde heraus in die Lichtfülle des Höhengeländes. Auf halber Höhe bietet sich ein schönes Bild nach rückwärts auf den Grund. Die herben Farben des allerersten Vorfrühlings fließen in buntem Wechsel ineinander. Darüber spannt sich der weite, blaue Himmel.

Der Weg klettert hinauf nach Pennrich. Die Häuser des Dorfes winken freundlich von der Höhe herab. Oben angelangt, führt die breite Landstraße links hinab über Gorbitz und Wölfnitz nach Dresden. Hier oben aber schließt die Wanderung mit einem prächtigen Panorama. Die Häusergruppen von Gompitz und Ockerwitz liegen im Glanze gebadet. Weit drüben dehnen sich die blauen Berge der Lößnitz. Hoch über den Lößnitzbergen baut sich der Rücken des Königsbrücker Keulenberges auf. Weiterhin dehnt sich der helle Sandfleck des Hellers im Sonnenschein. Endlich beschließt der Steilfall der Loschwitzer Höhen bei Pillnitz das duftige Diadem von Dresden. Unten im Lichtglast breitet sich die große Stadt, Haus an Haus, vom Silbergürtel der Elbe umflossen. Die Türme ragen klar und deutlich aus dem Häusergewoge empor. Allmählich senkt sich die breite Straße hinab in den Schoß der Residenz.

 

 

Aus "Der grüne Film" - ein Wanderbuch von Edgar Hahnewald.